Der Verlag Sikorski hat seine Komponisten gefragt, wie sich diese Monate und Wochen auf ihr künstlerisches Schaffen auswirken und so entstand 2020 ein Text zur Situation des Komponierens aus persönlicher Perspektive:

Komposition als Respons in einer disruptiven Phase

Bis vor Kurzem arbeitete ich an einem längeren work-in-progress, dem Klavierzyklus ‚Periplus‘, welchen ich als einen Entwurf ‚Virtueller Musik‘ im Digitalen auffasse. Ich hätte mir nicht denken können, dass das Werk und seine Ideen einmal eine solche Relevanz und brisante Aktualität hätten erleben können. Die Zeitschrift MusikTexte bringt in ihrer im Mai erscheinenden Ausgabe Nr. 165 mein Essay zum (neuerlichen) ‚Schein des Virtuellen‘ und zum Klavierzyklus ‚Periplus‘ heraus. Die Gedanken dieses Textes weiterdenkend arbeite ich derzeit daran, neue Formen und Ereignisse in Synergie mit medialisierten Umräumen zu schaffen.
Mich beschäftigt die Frage, wie viel die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie unsere Perspektive auf die Kunstausübung im Allgemeinen und im Besonderen auf die Musik verändern wird. Derzeit führt das Gebot der sozialen Distanzierung zu einer vereinzelten, häuslichen, medial vermittelten Teilhabe-Situation mittels digitalisierter Endgeräte. Das Hier und Jetzt der gemeinschaftlichen Aufführung wird als Erinnerung (auch an die ‚Vor-Corona-Zeit‘) simuliert. Mitschnitte und Geisterspiele scheinen die vermeintlich wesentliche Information übermitteln zu wollen (das Werk, das Spiel, die Statements). Das gemeinsame Erlebnis mit allen Sinnen, das soziale Ritual entfällt.
Wäre es also für mich – als Komponist gesprochen – lediglich wesentlich, Werke (als intentionale Objekte) zu schaffen, ganz gleich, ob und unter welchen technisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten sie repräsentiert werden können? Der Text als das Wesentliche, das Wichtigste – vergleichbar mit dem unseligen Begriff der Systemrelevanz? Und: Schreiben wir nicht alle tendenziell in eine ungewisse Zukunft hinein? Mich beschleicht ein Unbehagen dabei, das Leben der Kunst derart zurückgestutzt zu wissen. Wie also das ‚surplus‘, etwa die vielen interagierenden Ebenen des gemeinsamen Live, der Performance, des Lichts vor Ort, der räumlichen Präsenz, der Atmosphären in ein Medium übertragen, welches systematisch auf normiert-reduzierten Datenaustausch, Spracherkennung und Kontrolle mit Abrufbarkeit von Archivdaten angelegt ist? Es stellt sich mir die Aufgabe, meine Kunst gerade in diesem Kontext und in dieser Zeit als Freiheitsräume, als Orte der Möglichkeiten, des freien Denkens und des subtilen Wahrnehmens, der achtsamen Solidarität und des handlungsentlastenden Austauschs zu formulieren.
Die jetzt auferzwungene Zeit der ‚Klausur‘ löst Ansätze, Ideen, Reaktionen aus. Ich gehe davon aus, dass wir uns mehr denn je in hybriden Kontexten der Wahrnehmung befinden werden; zwischen neuen Konzertformaten – derer es nicht erst corona-bedingt dringend bedarf – und audiovisuell-digitalisierten Repräsentationen, Erweiterungen dieser Hier-und-Jetzt-Erlebnisse für diejenigen, welche nicht vor Ort teilhaben können. Diese Erweiterungen ließen sich als Fortsetzungen, parallele Stränge und andere Perspektiven auf die Ereignisse in den Kunstwerken verstehen und nicht nur als mediale Abbilder (eher: schlechte ‚Abzüge‘) erinnerter ‚Realfolien‘. Die hinzutretende neue Option der häuslichen digitalisierten Kunstwahrnehmung, aber auch die der Hybride aus Live, Vorproduktion und ‚In-Ear-Soundtracks‘ an Aufführungsorten führen zu neuen Formen und Verläufen in meiner Musik; ebenso zu neuen räumlichen, hörarchitektonischen Arrangements an besonderen Orten, die ich derzeit suche. Dies alles, mit der sich tagesaktuell wandelnden Grundbedingung, was davon wohl spekulativen Auflagen Genüge tragen könnte, ist meine derzeitige Situation, welche Planungen permanent in Bewegung hält, um nicht zu sagen andauernd neu befragt. Und dennoch: Es lassen sich erste Formulierungen fixieren. Selbstverständlich ist dies nicht. Umso mehr bin ich froh und dankbar dafür – dabei voller Empathie für die vielen Belastungen und Grenzerfahrungen, die viele von uns derzeit erleiden müssen. Es entsteht der Wunsch, mit meiner Kunst, Solidarität befördern zu wollen und Achtsamkeit in der gegenseitigen Wahrnehmung; hierfür Räume zu schaffen, sehe ich in diesem Sinne als meine unbedingte Aufgabe an.
Insofern sitze ich derzeit – das öffentliche Geschehen medial vermittelt verfolgend – daran, einen künstlerischen Respons auf diese disruptive Phase zu formulieren und Vorschläge für Formate für eine Kunst zu machen, die auf dieses besondere ‚Jetzt‘ reagiert und sich dabei zwangsläufig transformiert.
Ich hoffe, dass wir diese schwierige Krise letztlich auch mit einer neuen Bereicherung im Kreativen – dessen wir unbedingt mehr und nicht weniger benötigen – bewältigen können und die Verluste so gering wie möglich gehalten werden. Ich hoffe, hierfür einen Beitrag leisten zu können.

(Daniel Smutny am 26.4.2020)